Freiheit statt QR-Codes
Die Proteste in China gegen die Zerocovid-Politik sind absolut bemerkenswert. Seit 1989 haben Chinesen ihren Protest nicht mehr so deutlich und in mehreren Städten gleichzeitig artikuliert
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vergangene Woche ging es an dieser Stelle um eine mögliche Lockerung der Zerocovid-Politik und die Folgen auf Weltwirtschaft und Märkte. Nun überschlagen sich die Ereignisse in China.


Die Bilder und Videos aus Shanghai, die auf der Nacht von Samstag auf Sonntag um die Welt gingen, sind außerordentlich und man ähnliches auf dem Festland seit über 30 Jahren nicht gesehen.
Eine wütende Menschenmenge skandiert Parolen wie „Freiheit“, „Nieder mit Xi Jinping“, „Nieder mit der kommunistischen Partei“, und „Freiheit für Xinjiang“. In mehreren Städten des Landes sind seit gestern tausende Menschen auf den Straßen, um gegen die ZeroCovid-Politik des Landes zu protestieren.
Zwischen Mitternacht und vier Uhr morgens hatten sich in der Nacht von Samstag auf Sonntag immer mehr Menschen auf der Kreuzung Anfu Lu und Wulumuqi Lu in Shanghai versammelt. Sie hatten zunächst Teelichter aufgestellt und Blumen niedergelegt. Schnell aber waren die Slogans politischer geworden und sich gegen die Herrschaft der Partei direkt gerichtet. Manche stellten sich der Polizei direkt entgegen, andere sangen die Nationalhymne.
Auch am Sonntag versammelten sich dann wieder Menschen auf der Straße. Die Polizei aber hatte offensichtlich die Kontrolle wieder übernommen, und zahlreiche Personen festgenommen. Nach wie vor ist die Situation aber angespannt. Video-Aufnahmen zeigen, dass es auch in dieser Nacht immer wieder zu kleinen Zusammenstößen kam.


In Shanghai begannen die Proteste nicht ohne Grund auf der Wulumuqi Lu. Die Straße ist eine belebte, und aufgrund ihrer vielen Cafés und Restaurants bei Chinesen und Ausländern gleichermaßen beliebten Ecke in der ehemaligen französischen Konzession der Stadt. Wulumuqi ist der chinesische Name von Urumqi, Hauptstadt der Autonomen Region Xinjiang. Dort war am vergangenen Donnerstag in einem Wohnhaus ein Feuer ausgebrochen. Aufgrund der Lockdown-Maßnahmen in Form von Straßensperren und Kontrollen konnten die Löschfahrzeuge das Gebäude nicht schnell genug erreichen. Mindestens zehn Menschen starben. Videos zeigten eine Frau, die aus einer brennenden Wohnung um Hilfe schreit.

In Urumqi herrscht schon seit über 100 Tagen ein strikter Corona-Lockdown. Immer wieder dringen vereinzelt Berichte von Verzweifelten nach draußen. Schon in der Nacht auf Freitag hatten die Proteste dort begonnen.
Inzwischen haben die Proteste auch andere Städte erreicht. An der Tsinghua-Universität, der wichtigsten Uni des Landes, versammelten sich mehrere tausende Menschen zum Protest. An anderer Stelle traten Demonstranten Covid-Absperrungen nieder. Ähnliches geschieht derzeit wohl in Nanjing, Chengdu, Wuhan und Xian. Viele von ihnen halten ein weißes Blatt Papier in die Höhe. Damit wollen sie ihren Protest gegen die Zensur zum Ausdruck bringen. Weiß ist auch die Farbe der Trauer in China.

Die Corona-Infektionszahlen im Land haben diese Woche einen Höchstwert erreicht. Die Regierung vermeldete vergangene Woche 35000 Neuinfektionen, ein Rekordwert für China - dabei im internationalen Vergleich noch immer sehr niedrig.
Die ZeroCovid-Politik der chinesischen Regierung scheint sich jetzt auf einen Wendepunkt zuzubewegen. Die Regierung in Peking setzt seit drei Jahren auf das umstrittene Konzept „dynamischer Lockdowns“. Im Fall von Corona-Infektionen werden betroffene Stadtviertel abgeriegelt. Die Bewohner müssen sich zu PCR-Tests einfinden. Wer positiv auf das Virus getestet wird, muss für mehrere Tage in eines der überall aus dem Boden sprießenden Quarantänelager. Derzeit befinden sich etwa 400 Millionen Menschen in einem Lockdown. Auch wirtschaftlich wird der Preis für diese Politik immer höher. Vergangene Woche waren Proteste bei einem Foxconn-Werk bei Zhengzhou ausgebrochen und hatten die Produktion des Apple-Zulieferers stark beeinträchtigt.

Gerade erst hatte die Regierung deswegen einen 20-Punkte-Plan erlassen, um die Maßnahmen etwas erträglicher zu gestalten. Dabei aber scheint es Probleme bei der Umsetzung zu geben.
Aus für viele Beobachter nur schwer nachvollziehbaren Gründen hält Peking an dieser in der Anfangszeit der Pandemie weltweit populären Methode fest. Ausländischen mrna-Impfstoffen will die Regierung nicht vertrauen. Mit der evolutionären Entwicklung des Virus hin zu einer schnelleren Übertragung bei gleichzeitig geringer werdenden Letalität kommt China nun nicht mehr hinterher.
Immer mehr Menschen sind die Lockdowns, Zwangsisolation und die strikte Überwachung in Form des „Gesundheitscodes-System“ leid. Hinzu dürfte ausgerechnet die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar gekommen sein. Millionen von Chinesen verfolgen die Spiele und sehen, dass die Zuschauer in den Stadien keine Masken tragen.