Die türkische Krankheit
Erdogan ist wieder gewählt worden - das bedeutet auch, dass Währung weiter fallen und die Inflation zunehmen wird. Was lässt sich daraus lernen?
Liebe Abonnenten,
vor Kurzem erschien eine Reportage von mir in der WirtschaftsWoche zu den Wahlen in der Türkei. Ihr findet sie etwas weiter unten. Einiges hat sich freilich durch den Wahlausgang erübrigt. Ich empfehle sie trotzdem, da sie hoffentlich zu einem tieferen Verständnis dieses Landes beiträgt.
Zunächst aber ein paar Anmerkungen zur aktuellen Lage:
Die türkische Lira hat wie erwartet nach dem Wahlsieg Erdogans an Wert verloren. Für einen Euro erhält man aktuell rund 22 türkische Lira. Vor sieben Jahren waren es noch drei Lira. Morgan Stanley rechnet damit, dass die türkische Lira bis zum Jahresende um rund ein Drittel auf 28 pro Dollar fallen wird. Die Inflation erreichte im vergangenen Jahr einen Wert von 80 Prozent, aktuell liegt sie bei rund 40 Prozent.
Aus westlicher Perspektive mit der Leitwährung US-Dollar und dem etwas schwächeren Euro im Hintergrund ist es immer leicht, die Geldpolitik anderer Staaten zu kritisieren.
Strukturell steckt die Türkei in einer ähnlichen Misere wie viele Schwellenländer. Das Land importiert mehr, als es exportiert. Da diese Importe (neben Konsumgüter aus der EU geht es vor allem um Öl und Gas aus Russland) mit US-Dollar bezahlt werden müssen, steht die Lira ständig unter Abwertungsdruck. Helfen könnte hohe Leitzinsen: Diese würden das Land für internationales Kapital attraktiver machen, und dieses sogenannte „hot money“ den Wert der Lira stabilisieren. Leitzinsen müssen oberhalb der Inflation liegen, damit die Preissteigerungen zurückgehen - das ist eigentlich Konsens unter den allermeisten Zentralbankern der Welt.
Warum sich der alte und neue Präsident mit Händen und Füßen gegen höhere Leitzinsen wehrt, dafür gibt es verschiedene Erklärungsversuche. Manche meinen, Erdogan hänge islamisch beeinflussten Wirtschaftstheorien an, wonach Zinsen generell etwas Schlechtes seien, und man deswegen am besten gleich darauf verzichtete. Tatsächlich gibt es (wie im Christentum) im Islam ein Zinsverbot, das allerdings stark aus der Zeit gefallen ist. Erdogan versteht es zwar, religiöse Wähler zu motivieren, gilt aber eigentlich als zu pragmatisch, um in ökonomischen Belangen dem Koran zu folgen.
Mehr zum Thema: Der Preis der Zeit - Führen Negativ- und Niedrigzinsen dazu, dass der Kapitalismus sich selbst zerstört?
Wahrscheinlicher ist, dass Erdogan und mit ihm das ganze Land schlicht in einem Dilemma stecken: Erhöht türkische Zentralbank jetzt die Zinsen, bekommen Unternehmen Zahlungsschwierigkeiten, und es werden weniger Kredite aufgenommen. Zur Inflation und schwacher Währung käme dann auch noch Arbeitslosigkeit hinzu. Die allermeisten Politiker wählen in diesem Dilemma lieber die hohe Inflation, anstatt die Arbeitslosigkeit. Letztere führt nämlich viel schneller zu Protesten und Demonstrationen. Eigentlich hat man in funktionierenden Demokratien deswegen eine unabhängige Zentralbank, die sich der Geldwertstabilität verpflichtet fühlt und nicht politischen Weisungen folgt. Unabhängig aber ist die türkische Zentralbank schon lange nicht mehr.
Ich habe mich in letzter Zeit immer wieder gefragt: Was genau unterscheidet eigentlich die europäische Geldpolitik von der türkischen? Unabhängig ist die EZB nur noch bedingt, Geldwertstabilität längst nicht mehr ihr einziger Auftrag. Manche fordern mittlerweile schon, dass die europäische Zentralbank “Klimaschutz” zum Mandat macht. Der europäische Leitzins liegt bei 3,75 Prozent, die Inflation bei knapp sieben Prozent. Nicht viel anders war die Situation in der Türkei 2016/2017. Das Dilemma, vor dem die Politiker stehen, ist ebenso dasselbe.
Kolay gelsin.
Weiter geht es mit der Reportage aus Istanbul:
Die Schicksalswahl
Noch nie waren die Chancen auf eine Abwahl Erdogans so hoch wie am 14. Mai. Doch der Sieger muss gewaltige wirtschaftliche Probleme lösen
Es dauert keine zwölf Stunden von der ersten Nachricht des Erdbebens am 6. Februar 2023 um vier Uhr nachts, bis Cem Eksi und seine Freunde im Flugzeug sitzen. Als sie am späten Nachmittag in Gaziantep ankommen, besorgen sie sich Autos, die sie ins Erdbebengebiet bringen. Gleichzeitig organisieren Geld und Lebensmittel von freiwilligen Spendern. Innerhalb von 48 Stunden haben der Gastronom aus Istanbul, der sonst eher für ein betuchteres Publikum kocht, und seine Freunde ein Dutzend Suppenküchen errichtet, mit denen sie pro Tag bis zu 30000 Menschen versorgen.
Zehn Tage bleibt der 32-jährige deutsch-türkische Koch in der Region, dann muss er zurück nach Istanbul, um sich um seine zwei Restaurants und einen Currywurst-Imbiss zu kümmern. Vier seiner Mitarbeiter blieben im Gebiet und kochten dort über sechs Wochen lang für die Überlebenden des Erdbebens. All das hatten die Gastronomen sich in Eigeninitiative aufgebaut. Erst am dritten Tag tauchte die Armee auf und begann die Erdbebenhilfe zu organisieren. Und mit der Regierung sei auch die Korruption und Misswirtschaft gekommen. „Ich bin immer wieder fasziniert von der großen Hilfsbereitschaft und Eigeninitiative der Menschen hier“, sagt er, und erzählt von einer reichen Istanbulerin, die 40000 Eier organisierte und spendete. „Aber sobald sich der Staat einmischt, geht alles schief.“ Wie viele Menschen ist sein Vertrauen in Staat und Regierung nach dem Erdbeben auf den Nullpunkt gesunken.
Von einem Wahlsieg der Opposition erhofft er sich nicht alles, aber viel. „Es wird einige Zeit dauern, bis sich wirklich etwas ändert. Wahrscheinlich braucht es nach 24 Jahren AKP eine neue Generation. Aber allein schon der Image-Wechsel würde dem Land so gut tun. Viele Menschen fürchten sich, in die Türkei zu reisen.“
Es sind Schicksalswahlen, die am 14. Mai in der Türkei stattfinden. Denn dieses Jahr ist auch der hundertjährige Geburtstag der Türkischen Republik. Die Türkei wurde 1923 von dem bis heute gottgleich verehrten General Kemal Atatürk aus den Trümmern des Osmanischen Reiches gegründet.
Für Erdogan ist dies die Gelegenheit, ein für alle Mal mit dem säkularen Staatsgründer gleichzuziehen, und das Land in eine Mittler-Position zwischen Ost und West mit eigenständiger Großmachtpolitik zu verankern.
Atatürk hatte dem Land auch einen strikten Westkurs verordnet, die lateinische Schrift eingeführt und das Tragen von traditionellen Kopfbedeckungen - oft gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung verboten. In den folgenden Jahrzehnten beherrschte das säkulare Militär das Land. 1952 trat das Land der NATO bei, und ist seitdem aufgrund seiner geografischen Lage und der zweitstärksten Armee des Bündnisses eines seiner wichtigsten Mitglieder.
Erdogan hat die Türkei wieder ein Stück nach Osten gerückt - anfangs mit großem Erfolg. Ein knappes Vierteljahrhundert ist es her, dass der energetische wie religiöse Mann aus einem Istanbuler Arbeiterviertel an die Macht kam. Dass die Lage der Türkei damals der heutigen ähnelt, mag Ironie oder Zynismus der Geschichte sein:
„Das Erdbeben hat auch viele Träume und Machtfantasien der türkischen Regierung begraben“, sagt Hasan Alkas, Professor für Mikroökonomie mit dem Schwerpunkt internationale Märkte an der Rhein-Waal in Kleve. Im März war er in der Provinz, um sich selbst ein Bild von den Schäden zu machen. „Die inoffiziellen vorläufigen Zahlen gehen von über 20 Milliarden Dollar aus. Ich glaube eher, dass es in Richtung 100 Milliarden Dollar gehen wird. Davon kann sich ein Land wie die Türkei mit einem Bruttosozialprodukt von unter 900 Milliarden Dollar nur sehr schwer erholen.“
Als Erdogan 2001 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, litt das Land unter einer galoppierenden Inflation, und 1999 hatte ein Erdbeben Izmit und Koaceli, eine Region nahe Istanbul verwüstet.
Erdogan gelang es innerhalb weniger Jahre, mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds die Inflation zu bekämpfen und die Lira zu stabilisieren. Die Wirtschaft wuchs, und bald von einem „anatolischen Tiger“ die Rede.
Und auch wenn es heute kaum mehr vorstellbar klingt: Sogar politisch waren die ersten Erdogan-Jahre eine Zeit der Befreiung. Das Kopftuch-Verbot, das Jahrzehnte lang in öffentlichen Einrichtungen gegolten hatte, wurde abgeschafft. Damit konnten Frauen aus der religiösen Schicht studieren, und Berufe in Behörden und staatlichen Einrichtungen nachgehen. Auch die Minderheiten-Rechte wurden gestärkt, die kurdische Sprache zum Beispiel wieder erlaubt. 2005 wurden Beitritts-Verhandlungen mit der Europäischen Union aufgenommen.
Die Wähler dankten es Erdogan und der AKP mit ihren Stimmen. Wann genau aus dem Reformer Erdogan der autoritäre Alleinherrscher wurde, lässt sich nicht mehr genau sagen. Wichtige Stationen aber waren die Gezi-Proteste 2013, bei denen er mit harter Gewalt gegen friedlich demonstrierende Studenten vorging, der Putschversuch im Juli 2016, den er nutzte, um sich politischer Gegner zu entledigen, und die Verfassungsänderung 2018, mit der den Staatsapparat auf sich zuschnitt.
Heute ist die Türkei wieder ein verwundetes Land: Die Währung ist abgestürzt, die Inflation wieder so hoch wie zu Beginn der Erdogan-Epoche. Und als wären die Probleme nicht schon genug, hat das schlimmste Erdbeben seit Jahrzehnten das Land erschüttert. Eigentlich denkt man, müsste die Abwahl Erdogans eine sichere Sache sein. Doch so einfach ist es nicht.
Gegen Erdogan tritt ein fragiles Mehr-Parteien-Bündnis an. Die größte Oppositionspartei, die CHP, wird immer wieder mit den deutschen Sozialdemokraten verglichen, doch der Vergleich hinkt an zahlreichen Stellen. Ihr Führer Kemal Kilicdaroglu wird mal als der türkische Gandhi bezeichnet, weil er als sanftmütig und leise gilt. Vielen aber ist der langjährige Oppositionsführer aber nur bekannt, weil er 2017 mehrere Wochen lang 450 Kilometer zu Fuß von Ankara nach Istanbul lief. Der „Gerechtigkeitsmarsch“ richtete sich gegen die repressive Politik Erdogans nach dem Putschversuch. Seine Kritiker sagen, ihm fehle jedes Charisma. Als Anhänger der alevitischen Glaubensgemeinschaft sei er zudem für sunnitische Mehrheit nicht wählbar.
Die Bündnispartner der CHP sind zwei rechte Parteien. Meral Aksener verließ 2017 die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) von Devlet Bahceli und gründete die etwas gemäßigtere Iyi-Partei. Beide aber sind sich einig darin, dass die vier Millionen syrischen Flüchtlinge so schnell wie möglich aus dem Land geschmissen werden sollen.
Königsmacher dürfte die kurdische HDP werden. Dessen Anführer Selahattin Demirtaş sitzt seit 2016 im Gefängnis, weil ihm die Unterstützung der terroristischen PKK vorgeworfen wird. Bisher hat sich die HDP nicht eindeutig positioniert.
Doch selbst wenn die Opposition unter Kilicdaroglu die Wahlen am 14. Mai gewinnen sollte, stehen ihr schwierige Zeiten bevor. Denn die wirtschaftlichen Probleme sind mittlerweile so gewaltig, dass sie sich nicht innerhalb von ein paar Monaten lösen lassen.
II. INFLATION
An einem regnerischen Tag im April auf dem Beyazit-Platz im europäischen Teil der Stadt. Händler verkaufen hier Waren aus der Erdbeben-Region. Die Erlöse kommen den Erdbeben-Opfern zu, sagt einer der Verkäufer. Doch ob dem wirklich so ist, weiß man nicht. Schon bald gesellt sich ein „Patron“ zu uns, ein Mann, der sich als Chef des Marktes vorstellt, und jedes Gespräch belauscht.
50 Prozent - das ist in etwa der aktuelle Stand der Preissteigerungen. Mitte vergangenen Jahres waren es schon einmal 80 Prozent gewesen. Auch der Kurs der Lira hat sich auf niedrigen Niveau gerade etwas stabilisiert. Rund 21 Lira erhält man derzeit für einen Euro. Keine sieben Jahre ist es her, da lag der offizielle Kurs noch bei 1 zu 3. Viele der Armen leben von der Hand in den Mund: Fleisch ist für viele nicht mehr erschwinglich, selbst für Eier reicht oft das Geld nicht mehr.
Eine Frau macht Gözleme, crepeartige Fladen mit Spinat und Käsefüllung. Wie so viele musste sie vor kurzem aus ihrer Wohnung ausziehen, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten konnte. Sie erzählt, sie habe zweimal AKP gewählt. Dieses Mal wolle sie für die Opposition stimmen. „Die Inflation ist das größte Problem des Landes“, sagt sie.
Trotzdem - noch immer ist die Haben-Seite des politischen Kontos Erdogans bei vielen Leuten gut gefüllt. Gerade ärmere und religiöse Menschen sind ihm und der AKP noch immer dankbar für das, was er vor allem in den ersten Jahren seiner Regierungszeit geschaffen hat.
„Ich finde nicht alles gut, was Erdogan macht“, sagt eine Frau im Kopftuch auf dem Markt. „Seine autoritären Tendenzen machen auch mir Sorgen, aber wir haben ihm einfach sehr viel zu verdanken. Ohne ihn hätte ich nicht auf eine Universität gehen können“. Es war Erdogan, der das strikte Kopftuchverbot in öffentlichen Gebäuden in der Türkei aufhob. „Dankbar sind wir auch für die vielen Krankenhäuser, die Schulen, Straßen und Bahnhöfe“, sagt ihre Kollegin, eine ältere Dame mit losem Kopftuch. „All das gab es vorher nur in den großen Städten Ankara, Izmir und Istanbul, nicht aber auf dem Land.“
Gegenüber von ihnen verkauft ein junger Mann syrischer Abstammung Pistazien. Die Aufnahme von vier Millionen syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen geschah nicht nur aus Nächstenliebe - Erdogan hoffte, sich damit auch eine neue Wählerklientel zu schaffen. Der Mittdreißiger wünscht sich einen erneuten Wahlsieg Erdogans. „Ich mag ihn einfach, er hat Charisma“. Mehr möchte er dazu nicht sagen. Die Atmosphäre auf dem Markt ist angespannt. Als wir gehen wollen, nähert sich eine besorgte Frau und bittet darum nichts zu veröffentlichen, was sie gesagt hat. Alle wollen nur anonym sprechen. Auch das ist ein Erbe von einem Vierteljahrhundert Erdogan: Durch die zahlreichen Verhaftungen von Dissidenten und Kritikern, durch das Schließen von Zeitungen, die der Opposition nahestehen und der Zensur von Internet-Seiten hat sich ein Klima der Angst und Paranoia ausgebreitet. Kritiker gibt es noch - doch die Kanäle, auf denen sie sich äußern, sind weniger geworden. Es bleibt eine gewisse Sorge vor der Willkür des Staatsapparats.
Dass die Inflation neben der schlechten Organisation der Erdbebenhilfe das größte Problem der Türkei ist, darüber sind sich alle einig. Cem Eksi, der deutsch-türkische Koch, betreibt drei kleine, aber feine Restaurants im europäischen Teil Istanbuls. Das "Mabou" und das "Glouton" richten sich tendenziell an eine zahlungskräftige Kundschaft: Wohlhabende Istanbuler und ein paar Touristen.
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