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Der Preis der Zeit
Negativ- und Niedrigzinsen führen dazu, dass der Kapitalismus sich selbst zerstört. Die Lösung liegt in knappem Geld
Liebe Abonnenten,
in der Türkei finden in knapp zwei Wochen Schicksalswahlen statt. Die Chancen, dass Erdogan nach fast einem Vierteljahrhundert abgewählt wird, waren noch nie so hoch wie jetzt. Gleichzeitig begeht die Türkei dieses Jahr ihren 100. Geburtstag (mehr zu dem Thema findest Du hier). Heute aber soll es um die türkische Zinspolitik gehen, und was sich daraus ablesen und lernen lässt.
Die Inflation hat sich in den vergangenen Jahren durch die türkische Gesellschaft gefressen. Die Mittelschicht ist erodiert, die Armen leben von der Hand in den Mund. Die türkische Lira ist abgestürzt. Während man 2016 für einen Euro drei Lira bekam, sind es heute über 20. Die Inflation lag im vergangenen Herbst bei 80 Prozent (derzeit hat sie sich etwas stabilisiert, ist aber immer noch bei 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr).
Es gibt in den deutschen Medien eine gewisse Arroganz, mit der man auf die Türkei blickt, die zu einer Art Automatismus geworden ist: Alles, was Erdogan und seine Regierung anfasst, werde zu einem unfassbaren Blödsinn, und könne in dieser Form niemals in Westeuropa geschehen.
Zwischen 2016 und 2019 berichtete ich aus Istanbul vor allem über Wirtschaft. In dieser Zeit lag die Inflation in der Türkei bei 10, 15 Prozent. Paradiesische Zustände aus heutiger Sicht. Aus deutscher Sicht war das türkische Problem damals einfach zu erklären:
Erdogan hatte die Unabhängigkeit der Zentralbank faktisch beendet und die Leitzinsen waren zu niedrig. Der Grund: Erdogan hänge einer unorthodoxen, womöglich islamistischen Theorie des Zinses an. Hohe Zinsen würden demnach eine zu einer hohen Inflation führen - und nicht umgekehrt. Das Dilemma für Erdogan aber bestand vielmehr darin, dass eine Zinserhöhung zu einem Konjunktureinbruch geführt hätte, und dieser wiederum zu Arbeitslosigkeit.
Das Interessante heute ist, dass man in der EU-Zone genau das aktuell wiederholt wird, was man damals an Erdogan kritisierte.
Worum geht es?
Um die Inflation zu bekämpfen, muss die Zentralbank die Zinsen über die Inflationsrate anheben. Kredite werden dadurch teurer. Und wenn Unternehmer mehr Zinsen für einen Kredit zahlen müssen, nehmen sie weniger Kredite auf. Viele Projekte lohnen sich dann nicht mehr. Die Wirtschaft kühlt sich. Es ist weniger Geld im Umlauf, die Preise fallen.
Liegen die Zinsen unterhalb der Inflationsrate, steigt die Inflation an. Sich via Kredit Geld bei der Bank zu beschaffen, macht dann mehr Sinn, als es auf dem Sparbuch dahin schmelzen zu lassen. Projekte müssen nicht so viel Gewinn abwerfen. Ergo nehmen Unternehmen mehr Kredite auf, mehr Geld kommt in Umlauf, die Wirtschaft wächst.
Diesen Zusammenhang beschreibt die Taylor-Rule.
Sprich: Liegt die Inflation bei zehn Prozent, muss der Leitzins der Zentralbank oberhalb von zehn Prozent liegen. In der Türkei aber lag diese stets unterhalb der Inflation, ergo nahm diese weiter immer zu. Man kann auch sagen: Die Realzinsen (Nominalzinsen minus Inflationsrate) waren negativ.
Es gibt zahlreiche andere Faktoren, die - kurzfristig - auf die Inflation einwirken. Energie-Preise zum Beispiel, weil Energie eine Input-Größe in alle Produkte ist. Auch Probleme in den globalen Lieferketten können Produkte verteuern und so die Inflation in die Höhe treiben. Das war der Fall während der Lockdowns 2020 und 2021. Auch muss man festhalten: In den vergangenen Jahren war überhaupt keine Korrelation von Geldmenge und Inflation festzustellen. Seit der Finanzkrise 2008 waren die Zinsen so niedrig wie überhaupt noch nie in der Geschichte, die Inflation aber war niedrig. Vermutlich war dies auf die gestiegene Güter-Menge aus China zurückzuführen. Aber das hat viele Kritiker, insbesondere von links, zu der Aussage verleitet: „Die Inflation hat überhaupt nichts mehr mit Geldmenge und den Leitzinsen zu tun“. Ein Extremfall ist die Modern Money Theory (MMT), wonach der Staat so viel Schulden machen könne (und müsse!), um damit seiner Bevölkerung alle Wünsche zu erfüllen.
Während Inflation tatsächlich kurzfristig immer komplexere Ursachen hat, als es die Taylor-Rule besagt, ist der Zusammenhang von Zinsen, Geldmenge und Inflation trotzdem da. Jeder kann für sich einmal ein einfaches Gedankenexperiment durchführen.
In einem geschlossenen Kreislauf existieren drei Äpfel und drei Goldstücke, die untereinander getauscht werden. Der logische Gleichgewichtspreis eines Apfels beträgt also ein Goldstück. Wenn sich nun durch einen Goldfund die Anzahl der Goldstücke von drei auf sechs erhöht, steigt der durchschnittliche Preis eines Apfels auf zwei Goldstücke. Das ist eine Inflation von exakt 100 Prozent.
Zu behaupten, ein solcher Zusammenhang existiere nicht, ist gefährlich.
Wo stehen wir aktuell in der EU?
Die Inflation in der Euro-Zone betrug im März 6,9 Prozent (in Deutschland wurden auch knapp 20 Prozent gemessen). Der aktuelle Leitzins liegt bei 3,5 Prozent. Das ist in etwa die Situation der Geldpolitik in der Türkei 2016/2017. Vor einem Jahr war die Situation noch drastischer:
Mittlerweile haben sich Inflation und Zinssatz etwas angenähert, die Lücke aber ist nach wie vor vorhanden.
Nur in den USA ist es mittlerweile gelungen, diese Lücke gemäß der Taylor-Rule zu schließen, weswegen die Inflation wahrscheinlich noch dieses Jahr fallen dürfte.
Diese kurzfristige Entwicklung in den USA aber täuscht nicht darüber hinweg, dass in den allermeisten Ländern der Welt die Realzinsen negativ sind, Geld also zu billig ist. Der langfristige historische Trend lässt Kredite immer billiger werden. Das geschieht auch, weil die Zinsen sich nicht mehr nach dem Markt richten, sondern von den Zentralbanken manipuliert werden (gewöhnlich nach unten). Bis vor kurzem hatten wir in der Euro-Zone nicht nur negative Real-, sondern sogar negative Nominal-Zinsen. (Viele befürchten, dass dies mit der Einführung von CBDCs noch gängiger werden wird. Geld hat somit ein Verfallsdatum und muss ausgegeben werden.) Auch wenn wir aktuell eine Gegenbewegung sehen, ist der Trend relativ deutlich in Richtung billigeres Geld.
Der Frage, was diese historisch niedrigen Zinsen mit der Wirtschaft und der Gesellschaft machen, geht der Edward Chancellor in seinem Buch „The Price of Time“ nach. In seinem preisgekrönten Buch macht der Historiker darauf aufmerksam, wie künstlich niedrige Zinsen zu Spekulationsexzessen und Ungleichheit führen, wie sie die Entstehung von Zombie-Unternehmen fördern und zur vielleicht größten Bubble der Geschichte, dem chinesischen Immobilien-Boom, führten.
Der Zins ist der Preis der Zeit. Wenn wir Geld verleihen, nehmen wir Zinsen für die Zeit, in der es uns nicht zur Verfügung steht und weil es ein Ausfallrisiko gibt. Was passiert, wenn die realen Zinsen negativ sind?
Die Welt verkehrt sich. Aus einem Ausfallrisiko wird ein Verlust, wenn wir Geld nicht verleihen. Wir zahlen plötzlich einen Preis, dafür etwas zu behalten. Die Wirtschaft dreht sich immer schneller. Da kein Gewinn mehr erwirtschaftet werden muss, entstehen unsinnige Projekte, Zombie-Unternehmen, die nur überleben, wenn sie mit immer mehr Geld gefüttert werden. Immer mehr Güter werden produziert, deren Nutzen sinkt. Stillstand bedeutet Schrumpfen. Einen Komplex, den übrigens Michael Ende in seinem 1973 erschienenen Roman „Momo“ indirekt behandelt:
Für Politiker gibt es an diesem Punkt kein Zurück mehr. Das Dilemma für den Wahlkämpfer ist stets: Werden die Zinsen jetzt angehoben, kommt es zu Unternehmenspleiten, die Arbeitslosigkeit steigt und er verliert Wählerstimmen. Deswegen wählen Politiker fast immer den schleichenden Prozess der Geldentwertung. Und deswegen wiederum war die Unabhängigkeit der Zentralbank (wie der deutschen Bundesbank nach 1949) so essenziell. Diese Unabhängigkeit und Verpflichtung auf Preisstabilität aber ist schleichend erodiert.
Chancellor sieht Hoffnung in digitalen Währungen, lässt aber offen, ob dies Bitcoin oder von Zentralbanken emittierte CBCDs sein werden.
A digital Gold Standard would have some of the advantages, and fewer of the disadvantages, of the classical Gold Standard. One advantage is that central bankers would no longer be able to pursue an active monetary policy. The cost of borrowing would more accurately reflect the supply of and demand for actual savings. Guided by the market’s invisible hand, the rate of interest would find its natural level.
Ob wirklich eine von einem Algorithmus fixierte Geldmengensteuerung die Lösung ist, sei dahingestellt. Aber angesichts der wachsenden Inflations-Probleme ist es wert, darüber nachzudenken. Und eines zumindest ist klar: Mit zunehmender Inflation und laxer Zinspolitik steigt das weniger inflationäre Gut im Preis - to the moon.
Der Preis der Zeit
Inflation auf den Punkt gebracht - super Artikel! Es ist unglaublich, wie wenig die Menschheit vom Geld versteht. Jeder benutzt es zahlreiche Male am Tag, aber nur eine Handvoll verstehen das Prinzip dahinter. Geld ist das 'Megaspiel', bei dem alle über Los gehen wollen, aber noch nicht mal wissen, wo das Ziel ist, geschweige denn die Spielregeln verstehen. In den Spielregeln von Monopoly steht: 'Die Bank kann niemals Bankrott gehen'!