Der Zero-Covid-Industrie-Komplex
China öffnet nach fast drei Jahren seine Wirtschaft wieder. Wie es zu dem Wahnsinn kommen konnte, und was das für die Welt bedeutet
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der Xi-Pivot, über den BlingBling vor wenigen Wochen geschrieben hatte, kommt. China öffnet. Zwar wird es Monate dauern, bis wieder halbwegs Normalität hergestellt ist, aber die Marschrichtung ist nun da. Der chinesische Propaganda-Apparat hat den Schwenk bereits vollzogen. Nachdem man der Bevölkerung drei Jahre lang erzählte, wie gefährlich Covid ist und wie die Menschen in den USA wie die Fliegen daran sterben, heißt es jetzt: Alles nicht so schlimm. Was ist passiert, und warum kam es jetzt zu diesem Schwenk?
Spätestens wenn die Produktion von den neuesten iPhone-Modellen stockt, weiß man auch in Kalifornien, dass in China etwas nicht in Ordnung ist. So war es Mitte November, als plötzlich dystopische Bilder um die Welt gingen: Auf der einen Seite wütende chinesische Arbeiter bewaffnet mit Stöcken, oder irgendwelchen Gegenständen, die sie gerade finden konnten. Auf der Seite ein Heer von „Da Bai“, in weiße Schutzanzüge gekleidete Sicherheitsleute. „Da Bai“ bedeutet „Großer Weißer“ und hat sich als Name für die unzähligen, gesichtslosen Wachmenschen eingebürgert, die Chinas bizarre Zero-Covid-Politik umsetzen sollen. Wie viele Leute in der Volksrepublik gerade so ihr Geld verdienen, weiß man nicht. Doch dazu später mehr.
Auf einmal schrillten also die Alarmglocken im Foxconn-Werk in der chinesischen Provinz Zhengzhou, und wohl auch im Apple-Hauptquartiert im kalifornischen Palo Alto sowie im Pekinger Regierungsviertel Zhongnanhai. Das Foxconn-Werk in Zhengzhou beschäftigt rund 200000 Mitarbeiter, die 80 Prozent aller iPhones 14 zusammenschrauben. Kommt diese Produktion ins Stocken, spüren das die Apple-Stores auf der ganzen Welt. Apple kosten die Proteste eine Milliarde US-Dollar pro Woche.
Zwei Wochen später nach den gespenstigen Szenen im Foxconn-Werk von Zhengzhou brach in der Hauptstadt der Region Xinjiang Urumqi ein Feuer in einem Wohnhaus aus. Die Stadt befand sich zu diesem Zeitpunkt seit über 100 Tagen in einem Lockdown. Aufgrund von diversen Straßensperren kamen die Löschfahrzeuge zu spät zum Einsatzort. Zehn Menschen kamen bei dem Brand ums Leben. Kurz darauf gingen dann in Shanghai, Peking, und nahezu allen größeren chinesischen Menschen auf die Straße und demonstrierten gegen die Zero-Covid-Politik der Regierung. Es waren die größten Proteste seit den Studentenunruhen 1989. Während also in Katar die Fußball-WM stattfindet, und die Welt sich weitgehend darauf geeinigt hat, das Virus so zu behandeln, wie es vielleicht schon immer war - eine sich zwar schnell verbreitende, aber für die allermeisten Menschen harmlose Erkältungskrankheit - verharrten 1,3 Milliarden Menschen in einem dystopischen Hygiene-Alptraum.
Dabei schauten in der Anfangsphase der Pandemie viele im Westen relativ neidvoll nach China. Mit drakonischen Maßnahmen schien es der KP gelungen zu sein, den Ausbruch von Wuhan in den Griff zu kriegen. Debatten über Freiheit, Bürgerrechte und das Verhältnis des Einzelnen zum Kollektiv - in China überflüssig. Die Grenzen wurden geschlossen, die Einreise in die Volksrepublik nur noch unter strengsten Test- und Quarantäne-Vorschriften möglich. Doch wer einmal drin war, der erlebte ein Land, in dem das Leben und die Wirtschaft weitgehend normal liefen. Im Herbst 2020 waren die Bars und Cafés in im französischen Viertel Shanghais gut gefüllt. Selbst in Clubs wurde getanzt, während in Europa über den nächsten Lockdown diskutiert wurde. „ZeroCovid“ sei sogar gut für die Wirtschaft, propagierten Vertreter dieser Ideologie auch im Westen.
„Man wollte sich mit der strikten Zero-Covid-Politik Zeit erkaufen“, sagt Jörg Wuttke, Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking. Den hohen menschlichen Kosten in Form von massiven Freiheits- und Grundrechtseinschränkung stand zumindest vermeintliche Sicherheit gegenüber. Und tatsächlich: In den Fabriken im Perlfluss- und Yangze-Delta wurde auf auf Hochtouren produziert. Die Käufer saßen im Lockdown im Westen. „Nur hat man diese Zeit nicht genutzt“, meint Wuttke.
Wann genau sich erste Absurditäten dieser Politik offen zeigten, ist nicht ganz klar. Vielleicht war es im Frühjahr, als sich plötzlich Container-Schiffe im Gelben Meer stauten. Hafenarbeiter waren positiv auf das Virus getestet worden, also wurde ein Lockdown über die größten Container-Hafen der Welt verhängt. Schiffe stauten sich, und damit auch Waren. Wenn Lieferketten nicht mehr einwandfrei funktionieren, steigen die Kosten. Wenn Produkte teurer werden, schnellt die Inflation in die Höhe. Auch dazu später noch mehr.
Im Westen begann man die Bevölkerung zu impfen, gleichzeitig entwickelte sich Omikron, eine Virus-Variante, die weniger gefährlich, dafür aber ansteckender ist. Was nun für das Ende der Pandemie ausschlaggebender war, weiß man nicht. Auf jeden Fall änderte man in China an der Strategie: Nichts. Im Gegenteil - während die Fallzahlen nun nach oben gingen, ließ man überall im Land sogenannte Fangcang-Krankenhäuser erreichten, spartanische Lager, in denen jeder, der einen positiven Corona-Test aufweist, mehrere Wochen verbringen muss. Wann immer eine Häufung von Fällen auftritt, erscheinen hunderte von „Da Bai“ und riegeln Stadtviertel für mehrere Tage oder Wochen ab.
Lange wurde gerätselt, warum Xi Jinping an dieser Politik festhielt. Sind die Lockdowns dazu gedacht, politische Gegner und Demonstranten in Schach zu halten? Das Gegenteil ist der Fall, wie die Proteste Anfang November zeigten. Dienen die Lockdowns etwa dazu, globale Lieferketten zu stören, und die Inflation im Westen anzuheizen? Führt also Peking einen heimlichen Wirtschaftskrieg auf Seiten Moskaus gegen den Westen? Vielleicht, aber eine schnelle Öffnung der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt würde den Ölpreis und damit die Inflation noch viel höher treiben. Traut die chinesische Regierung den westlichen mrna-Impfstoffen nicht? Offensichtlich, andererseits lässt Peking ältere Chinesen sehr wohl impfen - zumindest mit heimischen Impfstoffen. „Ausländische mrna-Impfstoffe will man nicht nutzen und nun hat man zusätzlich das Problem, dass durch die zahlreichen Maßnahmen die Immunsysteme der Menschen heruntergefahren sind“, sagt Jörg Wuttke. „Lockerungen in der derzeitigen Situation können sich deswegen schlimm auswirken.“ Oder hat sich Xi Jinping und seine Führungsclique schlicht in einer Ideologie verrannt, und kann nun nicht mehr zurück, ohne einen Fehler eingestehen zu müssen? Vielleicht liegt die Erklärung auch in einer Kombination all dieser Punkte.
„Gleichzeitig ist klar, dass die Wirtschaft stark leidet, die Arbeitslosigkeit steigt und die Unzufriedenheit wächst. China ist mittlerweile vom Virus getrieben“, meint Jörg Wuttke. 3,2 Prozent wird China dieses Jahr wachsen - so wenig wie seit 40 Jahren nicht mehr, und weit unter dem offiziellen Ziel von fünf Prozent.
Wie sich die Öffnung jetzt auswirkt, ist auch noch eine offene Frage. Auch ob es wirklich zu einem “Tsunami” in den chinesischen Krankenhäusern kommt, oder ob diejenigen Medien, die auch in Europa noch vor einem Jahr eine Zero-Covid-Politik eigentlich ganz gut fanden, jetzt ihr Narrativ nochmals verteidigen müssen, wird sich zeigen.
Nebenbei hat der ZeroCovid-Komplex ein Eigenleben entwickelt: Allein die gewaltige PCR-Test-Industrie soll dieses Jahr 250 Milliarden US-Dollar umgesetzt haben, zumindest schätzt das die Beratung Soochow Securities. Das wären 1,2 Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung. Hunderttausende dürften Arbeit als „Da Bai“ gefunden haben.
Seit vergangener Woche ist nun klar: Der Wahnsinn wird gelockert. Und bis Januar kommenden Jahres will man 90 Prozent der über 80-Jährigen geimpft haben. Am vergangenen Wochenende kündigte Apple an, die Verlagerung seiner Lieferketten aus China zu beschleunigen.
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