Verhaltenssteuerung via Algorithmus
Chinas Socia Credit System hat das Zeug zur Dystopie - und ist doch missverstanden. Um was geht es?
Liebe Abonnenten,
wie bei anderen Themen, die Freiheitseinschränkungen betreffen (Depopulation, Zensur, mrna-Impfstoffe, Deep State) empfinde ich die Lücke zwischen Paranoia und Naivität auch beim Thema “Social Credit System” besonders groß: Auf der einen Seite Leitmedien und Establishment, die alles als „Verschwörungstheorie“ abtun – auf der anderen Seite alternative Quellen, die eine Black-Mirror-Dystopie an die Wand malen. Die einen arglos, die anderen paranoid. Oft steckt in den Entwicklungen ein wahrer Kern, der Anlass zur Sorge gibt und der Debatten erfordert - so auch hier. Anfang Juni verkündete Chinas Kommission für Entwicklung und Reform eine Neuerung des berüchtigten „Sozialkreditsystems“.
Die Punkte klingen zunächst etwas dröge: So sollen lokale Kreditplattformen besser untereinander vernetzt werden. Die Gesetzgebung soll vereinheitlicht und beschleunigt werden. Und außerdem soll das System auf weitere Sektoren wie Tourismus, Gesundheitsversorgung oder Pflege ausgedehnt werden. Was steckt dahinter?
Es gibt wenige Innovationen aus China, die in den vergangenen Jahren im Westen für so viel düstere Visionen gesorgt haben, wie das „Social Credit System“, zu Deutsch etwas holprig „Sozialkreditsystem“. Kritiker befürchten darin ein perfektes Überwachungssystem eines autoritären Staates. 2018 sprach der damalige US-Vizepräsident Mike Pence von einem „Orwell’schen System“, welches darauf abziele, „jeden Aspekt des menschlichen Lebens zu kontrollieren“.
Darauf deutet tatsächlich das Adjektiv „Sozial“ hin. Ein solch flächendeckendes Netz von Überwachungskameras kombiniert mit einem Punktesystem könnte die 1,3 Milliarden Chinesen zu braven Parteibürgern „nudgen“. Der - staatlich geförderte - Kauf eines Elektroautos würde mit Punkten belohnt, das Überqueren einer roten Ampel mit Punktabzug bestraft werden. Bei Unterschreiten einer Grenze kommt es zu Sanktionen: Der Kauf von Zug- oder Flugtickets wird dann vom System unterbunden, der delinquente Bürger unter Hausarrest gestellt von einer Art Maschine. Kein Wunder also, dass aus diesem Stoff autoritäre Dystopien gesponnen werden.
Tatsächlich aber wurde das Sozialkreditsystem dieser Art nie flächendeckend eingeführt. Es gab vereinzelt Pilotprojekte: So erfassen rund 200 Millionen Gesichtserkennungskameras an manchen Ampeln in Shanghai tatsächlich Bürger, die es vorziehen, das Signal Rot zu ignorieren, und projizieren die Gesichter auf eine für alle sichtbare Leinwand - Techniken der Kulturrevolution im digitalen Zeitalter. Während der Zero-Covid-Politik musste man zudem einen QR-Code beim Betreten eines Bahnhofs oder Kauf eines Zugtickets einscannen, welcher einen negativen PCR-Test garantierte. Ein flächendeckendes System zur Verhaltenskontrolle aber wurde nie eingeführt - und war vielleicht nie geplant.
Aus Sicht der Planer und Lenker in Peking stand immer ein wirtschaftlicher Aspekt im Vordergrund: Wie kann man die Kreditwürdigkeit chinesischer (und ausländischer) Unternehmen besser gewährleisten?
Hinweis in eigener Sache:
Heute ist die auch die zweite Folge unseres Podcasts Weltanschauung online gegangen. Sven Gerst und ich sprechen über die Folgen der EU-Wahlen, den Rechtsruck und die Gefahren des neuen Protektionismus.
Dazu muss man wissen, dass die Kreditvergabe in China noch immer unter opaken Kriterien verläuft. Staatsunternehmen werden von den - sich ebenfalls in staatlichen Händen befindenden - Händen bevorzugt. Privatunternehmen haben oft Probleme, an Geld zu kommen. Sie verschulden sich auf dem sogenannten „grauen Markt“ - einem halblegalen Schattenbankensektor. Schattenbankensektoren haben es so an sich, dass man ihre genaue Größe nicht kennt. Die Schätzungen schwanken zwischen drei und zwölf Trillionen US-Dollar. Ersteres entspricht ungefähr der Größe der britischen Volkswirtschaft.
Sinn und Zweck des chinesischen Sozialkreditsystems ist deswegen eher der Aufbau eines Pendants zum österreichischen Kreditschutzverband. Ein zentrales System soll es Unternehmen, Banken und Behörden erleichtern, Informationen über die Kreditwürdigkeit eines Partners zu erhalten. Offiziell sind rund 33 Millionen chinesischen Unternehmen bereits erfasst. Ihr Punktestand ergibt sich aus Skalen wie pünktliches Zahlen der Steuern, Produktstandards und Einhaltung von Umweltauflagen.
Nicht nur das - auch die Schuldensituation von Lokal- und Provinzregierungen soll so transparenter werden. All das kommt nicht von ungefähr - denn gerade diese gelten als massiv überschuldet. Da lokale Regierungen in China keine Anleihen ausgeben können, war der Verkauf von Land jahrelang die einzige Einnahmequelle. Diese ist versiegt, die Kosten aber sind noch immer da.
Viel Orwellscher Lärm um Nichts also? Nicht ganz. Nach wie vor befindet sich das Sozialkreditsystem im Aufbau. Alle Elemente zur totalen Überwachung sind vorhanden, und kommen wie zum Beispiel in der von Uiguren bewohnten Region Xinjiang auch zur Anwendung. Ob sie eines Tages wirklich zu einem großen zentralisierten System verknüpft werden, ist ungewiss.
Kombinierte man eine digitale Währung (CBDC) dann noch mit einem Sozialkredit-System hätten Regierungen tatsächlich ein Werkzeug zur kompletten Verhaltenskontrolle.
Dass digitale Zentralbankwährungen kommen werden, ist übrigens sicher. Hier dreht es sich vor allem um die Frage, ob mit der Einführung auch gleichzeitig „Fluchtwege“ wie Bargeld, Gold und Bitcoin geschlossen werden.
Aktuell sieht es nach dem Gegenteil aus: Sowohl US-Präsidenten Biden als auch Donald Trump buhlen derzeit um die Gunst von Bitcoin-Wählern. Trump kündigte kürzlich an, er wolle, dass alle verbleibenden Bitcoins in den USA gemined werden sollen. Das ist eine erfreuliche Entwicklung.
Allerdings sollten wir uns auch nicht zu sehr in Sicherheit wiegen. Die allermeisten Regierungen streben langfristig nach mehr Kontrolle. Kein Grund zur Paranoia also, aber zur Wachsamkeit.
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Vielen Dank für diesen interessanten und besonnenen Artikel.
Spannender Artikel - besten Dank! Hier eine Ergänzung:
Der Grund und Boden in China kann zur Info nicht gekauft, sondern stets und immer nur bis maximal 99 Jahre gepachtet werden (Neue Einzonung). Bestehende Überbauungen und ganze Regionen weisen somit seit deren Errichtung stets die gleiche Restlaufzeit auf, sodass der Staat grössere Gebiete übernehmen und bei Bedarf neu (ver-)planen kann. Der Einkommensstrom ist somit auch langfristig gewährt.