

Entdecken Sie mehr von BlingBling
Zeitenwende in Japan
Kaum ein anderes Land hat wirtschaftlich so sehr vom Aufstieg Chinas profitiert wie Japan. Die „Zeitenwende“ findet aber auch hier statt.
TL/DR:
In Japan bereitet man sich auf einen großen Konflikt vor
Das Verteidigungsbudget soll auf Druck der USA erhöht werden
Pazifisten versuchen das zu verhindern.
Liebe Abonnenten,
Kaum ein anderes Land hat wirtschaftlich so sehr vom Aufstieg Chinas profitiert wie Japan (außer vielleicht Deutschland). Die „Zeitenwende“ findet aber auch hier statt. Wirtschaftliche Bande werden gekappt. Vor allem aber verabschiedet sich das Land von seinem Pazifismus - was längst nicht alle gutheißen. Japan soll aufrüsten. Eine Spurensuche in Tokio und Okinawa.
„Military Welcome“, steht auf einem Schild eines Taco-Ladens im American Village auf der japanischen Insel Okinawa. Das „Village“ wurde Anfang der Achtziger Jahre für die rund 26000 amerikanischen Soldaten und deren Angehörige errichtet: Eine etwas bizarr anmutende Ansammlung von Burger-Läden, Christmas-Shops und Spielhallen in grell-bunten Farben. Am feucht-schwülen Himmel sieht man gerade zwei Militärflugzeuge landen. Willkommen aber sind die amerikanischen Soldaten längst nicht überall. Kein halbes Jahr ist es her, da gingen mehrere tausend Bürger der Insel auf die Straße. Sie demonstrierten wie jedes Jahr um den 15. Mai gegen einen weiteren Ausbau der amerikanischen Militärbasis. Es ist der Jahrestag der Rückgabe der Insel an Japan durch die Amerikaner 1972.
Okinawa gilt als „unversenkbarer Flugzeugträger“ der USA im Pazifik. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs befindet sich hier eine der größten und strategisch wichtigsten Militärbasen der USA und wacht über die Nachkriegsordnung. Nur einenhalb Flugstunden sind es von hier aus nach Taiwan, zwei dauert es bis nach Shanghai, der Mega-Metropole auf dem chinesischen Festland. Die US-Navy plant gerade den Aufbau eines neuen U-Boot-Stützpunktes. Doch die Verteidigung der Region will Washington längst nicht mehr alleine schultern. Japan soll mithelfen - und das nicht mehr nur mit Geld.
Die einen in Japan möchten die Zeit gerne zurückdrehen, den anderen kann es nicht schnell genug gehen. Ken Takada gehört zu ersteren. „Wir möchten nicht mehr, dass Japan nochmals Krieg führt“, sagt der 79-Jährige mit gedämpfter Stimme, und zittriger Hand. „Unsere Verfassung fußt auf Menschenrechten und Demokratie, das müssen wir erhalten.“ Sein kleines Büro in Tokio ist voller Plakate, Büchern und Erinnerungen an Mahnwachen und Demonstrationen für Frieden.
Seit über einem halben Jahrhundert ist er in der japanischen Friedensbewegung aktiv. Er ist der Leiter des Bündnisses "Lasst keinen Krieg zu und zerstört nicht Artikel 9!”. Der nämlich garantiert den Pazifismus des Landes. Offiziell darf Japan nicht einmal eine Armee haben, nur sogenannte „Selbstverteidigungskräfte“, und genau diesen Artikel 9 zu verändern, oder ihn zumindest umzuinterpretieren, daran arbeiten politische Kräfte in der Regierung seit einigen Jahren. Genauso wie Deutschland wollen die USA nicht mehr allein die gewaltigen Verteidigungsausgaben stemmen, die die Abschreckung von China erfordert. Auch Japan soll sein Verteidigungsbudget bis 2027 auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung erhöhen - ein gewaltiger Beitrag, schließlich ist der Inselstaat die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt (durch die Abwertung des Yen in den vergangenen Wochen ist Japan aktuell auf Platz 4 gefallen).
Takadas Gegenspiel sitzt nur wenige Kilometer entfernt im Abgeordneten-Büro im Tokioer Regierungsviertel. Keiji Furuya ist Leiter des Zentrums der LDP für die Umsetzung der Verfassungsreform. Im Büro des schlanken, elegant gekleideten 70-Jährigen hängen Fotos, die ihn mit dem 2022 an einem Attentat erlegenen Ministerpräsidenten Shinzo Abe zeigen. Abes Ziel war es unter anderem, Japan neu auszurichten - wirtschaftlich, aber auch militärisch.
„Es geht darum, die Verteidigungskraft Japans zu stärken“, sagt Furuya. „Derzeit haben wir offiziell nur „Streitkräfte zur Selbstverteidigung“, keine richtige Armee.“ Diese wieder einzuführen, wäre ein erster Schritt. Es geht dabei um mehr als nur Namen, sondern ganz konkret um Waffenarten. Eine Armee dürfte anders als Selbstverteidigungskräfte auch Raketensysteme erwerben, die zum Beispiel Startrampen und Rollfelder des Gegners attackieren können.
„Bisher war das in Japan immer ein Tabu-Thema“, sagt Furuya. „Dafür braucht man in Japan eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Abgeordneten. Das ist also kein einfaches Unterfangen.“
Um wen es dabei geht, ist relativ klar: Seit Jahren rasselt Nordkorea mit Raketentests und feuert solche immer wieder auch über Japan hinweg, um zu demonstrieren, dass man die Inseln leicht erreichen kann. Seit einigen Jahren aber wachsen die Spannungen mit China. Vieles von dem, was man in Deutschland lange lieber ignorierte, nahm man in Japan deutlich wahr: Der vermeintlich sanfte Riese auf dem asiatischen Festland liberalisiert sich nicht, sondern tritt immer aggressiver auf.
Als die japanische Regierung 2010 die Senkaku-Inseln von einem ebenfalls japanischen Privateigentümer kaufte, sprach Peking von Verstaatlichung und entfachte in der eigenen Bevölkerung wütende Proteste und Boykotts japanischer Waren. Auch seltene Erden, die für die Herstellung von Halbleitern und Batterien wichtigen Metalle, fanden plötzlich ihren Weg aus China nicht mehr nach Japan. Im südchinesischen Meer zettelte Peking Streit mit gleich mehreren Nachbarn an, indem es auf unbewohnten Inseln Militärbasen aufschüttete und diese für sich beanspruchte. Das dringlichste Problem aber ist Taiwan:
„Unsere südlichste Insel ist gerade einmal 120 Kilometer von Taiwan entfernt“, sagt Furuya. „Ein Angriff Chinas auf Taiwan betrifft nicht nur Japan, sondern die ganze Welt.“
Mitte September war es einmal wieder so weit: 143 Kampfflugzeuge und 56 Kriegsschiffe in den Luftraum und die Hoheitsgewässer der demokratischen Insel ein, die Peking als abtrünnige Provinz betrachtet. Für die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt wäre ein Krieg in der Straße von Taiwan eine Katastrophe.
Die japanische Regierung unterstützt ihre Unternehmen deswegen dabei, essenzielle Forschungs- und Entwicklungsabteilungen aus China wieder heim nach Japan zu holen. Seit 2020 wurden insgesamt 527 Milliarden Yen (rund 3,3 Milliarden Euro) an Subventionen bezahlt, um Lieferketten zu verlagern. So will man sich unabhängiger von Pekings Zwang machen.
Dabei ist die wirtschaftliche Frage leichter zu lösen als die militärische. Ähnlich wie in Deutschland sind die Erinnerungen an die Gräuel des Zweiten Weltkriegs, die japanische Soldaten begingen und japanische Zivilisten später erlitten, bedeutsam und Teil der japanischen Identität.
Friedensaktivist Ken Takeda ist der Meinung, Japan müsse einen dritten Weg gehen, ähnlich dem der Schweiz, und setzt auf freundschaftliche Beziehungen zu allen Nachbarn: „Japan muss keine Angst haben vor Angriffen anderer, wenn wir selbst niemanden bedrohen - so wie unsere Verfassung es uns vorgibt.“
Politik-Beraterin Akiko Fukushima von der Tokyo Policy Foundation unterstützt die neue japanische Aufrüstung, ist sich des Spagats aber bewusst. „Eine öffentliche Mehrheit für eine Verfassungsänderung zu erhalten, ist sehr schwierig“, sagt sie. „Viele sind zwar für mehr Sicherheit, aber niemand will das mit Steuererhöhungen finanzieren.“
Und wenn es doch zum Äußersten kommt, und China Taiwan angreift? „Wir spielen solche Szenarien durch, ich kann darüber nichts Genaues sagen“, sagt Akiko Fukushima. „Nur so viel: Für uns ist es sehr wichtig, zu verhindern, dass Xi den Weg der Gewalt wählt. Deswegen müssen wir den Preis hochhalten und Peking Entschlossenheit signalisieren.“
Einen Krieg in der Region will niemand in Japan, weder Konservative wie Furuya, noch Pazifisten wie Ken Takada. Die einen setzen auf Abschreckung, um ihn zu verhindern. Die anderen fürchten, dass genau dies zum Krieg führen wird.
Dieser Text erschien zuerst in leicht veränderter Form in DIE WELT.