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Vom Verlust der Wertbestimmung
Was zählt, wenn nichts mehr gilt? Über Faust II, Robinhood, den neuen Finanz-Nihilismus und die Macht der Narrative
"Ich habe satt das ewige Wie und Wenn. Es fehlt an Geld, nun gut, so schaff es denn", klagt der Kaiser. Mephistopheles antwortet: "Ich schaffe, was ihr wollt, und schaffe mehr“.
Goethe: Faust II
Willkommen zur 30. Ausgabe von BlingBling!
Demnächst wird der Online-Broker Robinhood an die Börse gehen. Robinhood steht wie kaum etwas anderes für die Gamification der Finanzmärkte und indirekt auch für den Verlust des Wertes, um den es heute geht.


Bekannt wurde Robinhood vor allem im vergangenen Jahr während der Corona-Krise. Das hatte folgenden Grund: Zwar weiten Zentralbanken seit Jahren die Geldmenge aus. Das Mehr an Liquidität ist meist aber nur indirekt spürbar (weswegen auch die Inflation der Konsumentenpreise relativ niedrig bleibt. Mehr dazu in Ausgabe 22: Hyperinflation oder Panikmache?). Im vergangenen Jahr war das anders, weil die amerikanische Regierung mehrfach Schecks in Höhe von 1200 US-Dollar an die Bevölkerung verteilte, so genanntes Helikoptergeld.
Weil in den USA das soziale Sicherheitsnetz quasi nicht vorhanden ist, greift die Regierung in Krisenzeiten auf solche Maßnahmen zurück. Es wird dabei nicht zwischen Bedürftigen und Nicht-Bedürftigen unterschieden.
Eine Bekannte von mir aus Kalifornien lebt seit Jahren in der Türkei und arbeitet dort als freie Journalistin. Ihr monatliches Einkommen war noch nie so hoch wie im Corona-Jahr. Wohin also mit dem Geld? Viele junge Amerikaner investierten die Stimulus-Checks direkt an der Börse - und nutzten dafür den gebührenfreien Broker Robinhood.
Robinhood ist einfach zu bedienen, und es gibt hunderte von Videos auf Youtube, die das Neulingen erklären. In der Folge trieben zehntausende Millenials die Kurse von Tech-Aktien und Kryptowährungen wie Doge-Coin in die Höhe. Während die Weltwirtschaft in die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg sank, und Millionen ihren Arbeitsplatz verloren, stiegen die Börsenkurse auf Rekordhöhen.


Der Twitter-Account TikTiko-Investors sammelt Beispiele von durchgeknallten Millenials:
Letztlich aber ist das Phänomen Robinhood nicht Ursache der Gamification der Finanzmärkte, sondern Symptom. Geld hat die Funktion der Bezugsgröße, des Nenners, auf English “Denominator”, verloren.

Auf dem Aktienmarkt galten früher Kennzahlen wie das Kurs-Gewinn-Verhältnis. Daran ließ sich in etwas ablesen, ob eine Aktie gerade über- oder unterbewertet war. Aber nicht nur Facebook, Tesla, Amazon und Google scheinen sich diesen Bewertungen zu entziehen.
Das herkömmliche Kennzahlen nicht mehr gelten, ist nicht völlig neu: früher kam es zu diesen Phasen immer auf dem Gipfel von spekulativen Manien. “This time it’s different”, hieß es auch während der Tech-Bubble Ende der Neunziger Jahre. Nur ist die Zeit nun schon seit Jahren very different. Jede kleinste Delle auf den Aktienmärkten wird asap mit mehr Geld ausgebügelt.


Selbst Gold, über Jahrzehnte ein guter Indikator dafür, wieviel Geld sich im System befindet, versagt derzeit. Der Goldpreis stagniert seit Monaten, obwohl 20 Prozent aller US-Dollar im vergangenen Jahr geschaffen wurden.
Wenn nichts Wert hat, zählt nur der Preis. Wenn Preis durch Nachfrage entsteht, warum sich nicht einfach im Internet zusammenrotten und den Kurs hochtreiben? So geschah es im Februar, als sich Privatanleger auf einem Forum zusammenfanden, um den Kurs der Aktie GME in die Höhe zu treiben. Es funktionierte: GME stieg innerhalb weniger Tage von 30$ auf 420$. (Die ganze Geschichte in der BlingBling-Ausgabe “Gold, Silber und die Reddit-Rebellion”).

Zum Verlust der wertgebenden Funktion des Preises kommt eine Perspektivlosigkeit hinzu: Für nach 1980 geborene ist es heute ungleich schwerer geworden, ein Vermögen aufzubauen als es für ihre Eltern war. In Mitteleuropa spüren die meisten Menschen die Geldschwemme der vergangenen Jahre erst, wenn sie den Wunsch haben, Wohneigentum zu kaufen.


Immobilien zu kaufen, ist für die meisten ohnehin nur noch möglich, weil die Zinsen so niedrig sind. Sollte es wider Erwarten doch noch einmal zu einer Zinserhöhung kommen, würden zahlreiche Finanzierungspläne der deutschen Mittelschicht in die Luft fliegen.
Nach dramatischer ist die Situation in den USA, wo zahlreiche Millenials durch Studienkredite überschuldet sind.
Sparen lohnt sich nicht, wenn die Zinsen bei oder sogar unter Null liegen. All das begünstigt das Entstehen eines neuen Finanz-Nihilismus. Wer nichts oder wenig hat, und kaum Hoffnung hat, daran etwas ändern zu können, setzt im Casino alles auf eine Karte.

Da wir alle ein dringendes Bedürfnis nach Wertbestimmung haben, tritt etwas anderes an dessen Stelle: Das Narrativ. Die Tesla-Aktie ist zum Beispiel vor allem eine Erzählung. Das Kerngeschäft des Unternehmens ist nicht profitabel; das Unternehmen verliert Geld beim Verkauf von Autos. Aber die Erzählung vom genialen Gründer und einer strahlenden Zukunft, von selbstfahrenden Autos und Reisen zum Mars, ist unglaublich attraktiv. GME erzählte die Geschichte vom Aufstand der Kleinanleger gegen die Wallstreet-”Suits”, Bitcoin vom neuen deflationären Geldsystem. Narrative können durchaus mit den Tatsachen übereinstimmen, entfernen sie sich zu weit von den Tatsachen, drohen sie zu platzen. So lange sie das aber nicht tun, rechtfertigen sie ungeheure Preisanstiege.
Social-Media-Plattformen wie Twitter und Instagram verstärken die Macht, die Narrative über uns haben. Der Algorithmus schafft um uns eine immer dichter werdende Erzählwelt, in der jede Kritik, sollte sie doch einmal in unsere Blase hineinschlüpfen, als völlig irre erscheint und deswegen bekämpft werden muss.
Derzeit kämpfen zwei Ideologien gegen den Nihilismus an. Von links kommend will die Modern Monetary Theory einfach den Staat unbegrenzt viel Geld in die Hand nehmen lassen, um mit Investitionen in zum Beispiel grüne Infrastruktur Vollbeschäftigung zu schaffen. Das löst den Problem des Wertverlustes aber nicht, es ignoriert ihn schlichtweg. (Auch im Sozialismus hatten Preise ihre Funktion verloren).
Ein Gräuel für Bitcoiner:


Denn im Bitcoin-Narrativ soll die absolute Begrenztheit auf 21 Millionen den Wert aller Dinge benennen. Bisher hat das auf faszinierende Weise gestimmt:


“Wie kann eine Währung so volatil wie Bitcoin ein Nenner für ökonomischen Wert sein?”, fragen Kritiker.
“Bitcoin zeigt nur an, wie volatil das Finanzsystem ist, und mit wie viel Mühe, Stabilität halbwegs vorgegaukelt wird”, entgegnen die Coiner.

Ob das weiter funktioniert, hängt nicht zuletzt davon ab, ob die Erzählung hält: In den vergangenen zwei Monaten konnte man gut beobachten, wie hart die Narrativ-Verschiebung Bitcoin zusetzte: Aus dem digitalen Gold der Zukunft wurde erst ein Umweltproblem, dann ein Geldwäsche-Vehikel und ein Ponzi-Scheme. In den sozialen Medien wachen deswegen “Cyber Hornets” darüber - anonyme Twitter-Accounts berichtigen jede falsche Äußerung und rücken Narrativ-Verschiebungen wieder zurecht.
Ist es zu weit gedacht, wenn man fragt, in wie weit der Wertverlust auf den Finanzmärkten auch auf andere Bereiche der Gesellschaft ausstrahlt? Während der Trump-Jahre konnte man gut beobachten, wie langsam Narrative Fakten ersetzen zu begannen. Weil wir uns immer weniger auf Tatsachen und Werte einigen können, bewerten wir Personen, Ideen und Gedanken danach, welchen Lager wir sie zuordnen. Der Journalismus gerät in eine Krise, denn auch Wissenschaft wird auf einmal relativ. Kontaktschuld und Zugehörigkeit zu einem politischen Lager zählen für viele schon heute mehr als Argumente. Biden versucht, die Zeit zurückzudrehen. Wahrscheinlich aber wird seine Präsidentschaft nur eine Verschnaufpause in der fortschreitenden Zersetzung sein. BlingBling vermutet, dass es durch die zahlreichen Verzerrungen und Halbwahrheiten in der Corona-Pandemie in den kommenden Jahren zu einem massiven Vertrauensverlust in Politik, Medien und Wissenschaft kommen wird.
"Money is no more than a medium of exchange. Only when it has a value acknowledged by more than one person can it be so used. The more general the acknowledgement, the more useful it is. Once no one acknowledged it, the Germans learnt, their paper money had no value or use-save for papering walls or making darts. The discovery which shattered their society was that the traditional repository of purchasing power had disappeared, and that there was no means left of measuring the worth of anything. For many, life became an obsessional search for Sachverte, things of ‘real’, constant value: Stinnes bought his factories, mines, newspapers. The meanest railway worker bought gewgaws. For most, degree of necessity became the sole criterion of value, the basis of everything from barter to behaviour. Man’s values became animal values. Contrary to any philosophic assumption, it was not a salutary experience."
– When Money Dies: The Nightmare of Deficit Spending, Devaluation, and Hyperinflation in Weimar Germany von Adam Fergusson
Am Donnerstag hat die Europäische Zentralbank ihr Inflationsziel angehoben.
Das Faust-Zitat am Anfang dieses Textes übrigens stammt aus dem lesenswerten Buch von Martin Binswanger “Geld und Magie - eine ökonomische Deutung von Goethes Faust”. Die Gedanken von Binswanger fanden Eingang in eine Rede des Präsidenten der deutschen Bundesbank Jens Weidmann aus dem Jahr 2012, die sich heute ebenso prophetisch wie unheilvoll liest. Darin heißt es abschließend:
“Für das Vertrauen ist aber wichtig, dass sich Notenbanker, die ein öffentliches Gut verwalten – stabiles Geld – auch öffentlich rechtfertigen. Der beste Schutz gegen die Versuchungen in der Geldpolitik ist eine aufgeklärte und stabilitätsorientierte Gesellschaft.”
Ein schönes Wochenende!
PS:

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