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"In der deutschen Diskussion fehlt oft das strategische Verständnis"
Professor Hasan Alkas über die anstehenden Wahlen in der Türkei, die Rolle des Landes im Ukraine-Konflikt und die außer Kontrolle geratene Inflation
Liebe Abonnenten,
am 14. Mai finden in der Türkei bedeutende Präsidentschaftswahlen statt. Denn 2023 ist auch der hundertjährige Geburtstag der türkischen Republik. Die Türkei wurde 1923 von dem bis heute gottgleich verehrten General Kemal Atatürk aus den Trümmern des Osmanischen Reiches gegründet. Atatürk verordnete dem Land auch einen strikten Westkurs, führte die lateinische Schrift ein und verbot das Tragen von traditionellen Kopfbedeckungen - oft gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung. In den folgenden Jahrzehnten beherrschte das säkulare Militär das Land. 1952 trat das Land der NATO bei, und ist seitdem aufgrund seiner geographischen Lage und der zweitstärksten Armee des Bündnisses eines seiner wichtigsten Mitglieder.
Erst mit dem Regierungsantritt von Erdogan 2001 änderte sich das. Nach dem Scheitern eines EU-Beitritts 2004 orientiert sich das Land wieder an seiner osmanischen Geschichte und versucht sich an einer Großmachtpolitik. Für Erdogan ist die Wahl im Mai besonders wichtig, um in Sachen Popularität und Bedeutung mit dem Staatsgründer Atatürk gleichzuziehen.
Dr. Hasan Alkas ist Professor für Mikroökonomie mit dem Schwerpunkt internationale Märkte an der Rhein-Waal in Kleve, und war zuletzt im November zu Gast bei BlingBling.
Dieses Mal sprechen wir über die Inflation in der Türkei, die anstehenden Wahlen und die Rolle Erdogans im Ukraine-Krieg.
Herr Alkas, Sie sind gerade aus der Türkei zurückgekehrt. Was war ihr Eindruck?
Es ist schon erschreckend. Viele tausend Menschen sind in die großen Städte zu Verwandten gezogen. Eine Stärke der türkischen Gesellschaft zeigt sich jetzt: die engen familiären Bindungen und die Selbstorganisation. Doch das hilft vielen natürlich auch nur über die schlimmsten Tage hinweg.

Das Erdbeben hat das von 1999 schon übertroffen?
Ja, das damalige Erdbeben mit Epizentrum Izmit bei Istanbul war regional begrenzter. Jetzt sind rund 15 Millionen Menschen betroffen, etwa 160000 Gebäude –davon ein Großteil mehrstöckig- zerstört und derzeit 45000 Tote - damit ist es das schwerste in der türkischen Geschichte. Die ökonomische Dimension ist gewaltig. Die inoffiziellen vorläufigen Zahlen gehen von über 20 Milliarden Dollar aus. Ich glaube eher, dass es in Richtung 100 Milliarden Dollar gehen wird. Davon kann sich ein Land wie die Türkei mit einem Bruttosozialprodukt von unter 900 Milliarden Dollar nur sehr schwer erholen. Das Erdbeben hat auch viele Träume und Machtfantasien der türkischen Regierung begraben. In der Türkei hat man ohnehin das Problem, das eigene Potenzial richtig einzuschätzen. Man neigt schnell zur Überschätzung der eigenen Fähigkeiten. Nun kann man sagen, Bescheidenheit ist auch eine Form der Arroganz. Aber ist zumindest eine beständigere Form. Die Türkei hat immer versucht, eine Liga höher zu spielen, wozu sie zwar das Potenzial hat, aber kein effektives institutionelles Gefüge. Leider holen solche Katastrophen einen dann immer ein, weil in Krisensituationen die wahre Stärke sichtbar wird. Es geht jetzt um Fragen: Wie schnell hat der Staat reagiert? Wie schnell und koordiniert konnte er helfen? Wofür wurden die über 36 Milliarden Dollar „Erdbebensteuer“ ausgegeben?
Erdogan hat um Entschuldigung gebeten. Das geschieht ja auch nicht alle Tage. 2023 wird die Türkei 100 Jahre alt. Gleichzeitig steht eine der wichtigsten Wahlen in der Geschichte des Landes an. Welche Auswirkungen hat das Erdbeben auf die Wahl?
Erdogan ist Realist genug. Durch die Machtverlagerung des Präsidialsystems hat man viele Ministerien geschwächt. Zum Beispiel gibt es so etwas wie Staatssekretäre nicht mehr. Die hatten aber eine gewisse Kontinuität des Systems gewährleistet. Das fehlt jetzt. Das zweite Problem ist, dass Erdogans AKP letztlich keine Partei, sondern eine Bewegung a la Macron ist. Es fehlt die feste Verankerung in der Parteienlandschaft. In der ersten Phase, als Erdogan und die AKP an die Macht kamen, war das hilfreich, und es wurde viel Gutes geleistet, weshalb der Westen Erdogan unterstützt hat. Ab 2010 etwa aber setzte eine Verkrustung, Vetternwirtschaft und Verfilzung ein. Die fehlenden Strukturen einer Volkspartei machen sich jetzt negativ bemerkbar. Das alles kumulierte bei der Reaktion auf das Erdbeben.
Das wiederum macht radikale Oppositionspolitiker wie Bahceli wieder aggressiver. Erdogan kam auch durch die Erdbeben-Katastrophe 1999 an die Macht. Es ist nicht unwahrscheinlicher, dass er sie durch dieses Erdbeben wieder verliert.


Vor dem Erdbeben war die Türkei besonders wegen ihrer Politik im Ukraine-Konflikt in den Medien. Bisher hat Ankara einer NATO-Mitgliedschaft von Finnland zugestimmt, bei Schweden steht das noch aus. Wie positioniert sich die Türkei hier?
Die Türkei ist wirtschaftlich angeschlagen, und muss mit beiden Staaten irgendwie zurechtkommen. Das mag manchmal nach außen nach Wankelmütigkeit aussehen. Tatsächlich aber versucht Erdogan, hier eine Vermittlerrolle einzunehmen - was teilweise auch ganz gut funktioniert, wie zum Beispiel beim Weizen-Deal. Ich hätte mir als Europäer zunächst einmal gewünscht, dass man mehr Anstrengungen unternommen hätte, Schweden in die Eurozone zu holen als in die NATO. Ein gewisser militärischer Schutz wäre über den EU-Bündnisfall Art. 42 ohnehin gewährleistet. Man braucht aber auch neutrale Länder, um in solchen Konflikten zu vermitteln.
Was Erdogan betrifft, so ist auch das ein „typisch türkisches“ Phänomen - man versucht bei jedem Deal so viel wie möglich für sich herauszuholen. Aus europäischer Sicht wirkt diese Basar-Mentalität manchmal überzogen. In der Spieltheorie klingt das besser und heißt „Hold-Up-Problem“.
Ist es denn realistisch, dass die Türkei in diesem Krieg noch vermitteln kann?
Zumindest können sowohl Putin als auch Zelenski mit Erdogan gut kommunizieren, und beiden gilt er als verlässlicher Partner. Es wird sicherlich auch noch solche Versuche geben. In der deutschen Diskussion fehlt oft das strategische Verständnis, und zwar sowohl auf Seiten der Verhandlungsbefürworter wie Wagenknecht als auch ihren Gegnern. Das Verhandlungsfenster ist für Putin erst einmal geschlossen.
Warum?
Verhandlungen müssen zur richtigen Zeit angeboten werden, wenn man das Momentum nutzen kann - zum Beispiel, als die russischen Truppen sich aus Cherson zurückgezogen hatten. Jetzt hat sich die militärische Situation für Russland wieder verbessert. Man hält rund 20 Prozent des ukrainischen Territoriums. Mit leeren Händen wird Russland diesen Krieg nicht beenden. Man muss sich auch im Klaren darüber sein, dass es kein einfaches Zurück mehr gibt. Eine Lösung wird mit einer Waffenruhe beginnen, und dann mit Abstimmungen beziehungsweise Migration aus und in die besetzten Gebiete. Das mag nun vielen Leuten gegen den Strich gehen, aber ich glaube, dass Verhandlungen noch immer die beste Lösung sind. Besser, als dass jeden Tag junge Menschen als Kanonenfutter verheizt werden.


Fürchten Sie eine Eskalation des Krieges?
Russland ist noch immer stark genug mit konventionellen Waffen, die sehr dosiert eingesetzt werden, viel Schaden anzurichten. Das ist kein Vernichtungskrieg und es geht auch nicht um einen Atomkrieg. Der eigentliche Sinn nuklearer Abschreckung besteht darin, die Realisierung der Drohung zu vermeiden. Aber trotz aller Grausamkeiten von Kriegen sollte eine differenzierte, sachliche Diskussion in Deutschland möglich sein. Man darf auch nicht vergessen: Früher gab es mal Bestrebungen für eine unabhängige europäische Sicherheitspolitik - mit - Russland. Das fehlt derzeit völlig. Ein europäischer Frieden wird langfristig nur mit Russland gemeinsam möglich.
Noch einmal zurück zur Türkei: Die Inflation ist nach wie vor unglaublich hoch. Gleichzeitig kauft die türkische Zentralbank beständig Gold. Was steckt dahinter?
Schon seit langem versucht die Zentralbank mit Stützungskäufen, die Lira irgendwie zu stabilisieren, weil die zu niedrigen Zinsen Stützungskäufe erforderlich machen. Das gelingt aber kaum. Und auch die Goldreserven reichen nicht aus –besonders in Krisenzeiten appellieren Politiker gerne an die Bürger ihre Goldbestände herauszuholen-. Insgesamt sind die Nettoreserven der Zentralbank negativ. Die Währung wird auch weiter fallen, weil einfach die Zinsen zu niedrig sind. Aus Sicht der Politik war das in gewisser Weise verständlich: Durch hohe Zinsen käme zu der Inflation noch ein Wachstumsproblem und damit Arbeitslosigkeit. Hinzu kommt: Die Inflation schmerzt die Leute auch nicht so extrem, weil die Löhne zumindest halbwegs mitwachsen.


Man ist also längst in einer Lohn-Preis-Spirale, vor der hier noch gewarnt wird?
Die entsteht vor allem dort, wo es eine Lohn-Inflations-Koppelung gibt. In Deutschland haben wir die zum Glück nicht, aber in Belgien gibt es das zum Beispiel. Darüber freuen sich jetzt alle EU-Beamten, die ohnehin schon viel verdienen. In der Türkei aber führt genau das dazu, dass man aus der Inflationsproblematik nicht mehr herauskommt. Jetzt kommt dazu das Erdbeben, wo so vieles neu aufgebaut werden muss. Das heißt: Die türkische Regierung wird noch mehr Schulden aufnehmen, was wiederum den Druck auf die Lira erhöht.


Kommt es dann nicht irgendwann zu einer Währungsreform?
Das glaube ich zunächst nicht. Die Entwertung der Lira findet ja schon seit Jahren statt. Das Problem ist eher, wie man an das Geld für den Wiederaufbau kommt. Hinzu droht eine humanitäre Katastrophe, weil durch das Doppelerdbeben mit über 10.000 Nachbeben, die Menschen die Erdbebengebiete fluchtartig verlassen.