Deutschland, Schwellenland
Durch die Sprengung der Nordsee-Pipelines steuert Westeuropa auf eine Problematik zu, die man sonst nur von Emerging Economies wie der Türkei oder Argentinien kennt
Willkommen zu einer nicht so erfreulichen Ausgabe von BlingBling!
Als Hernan Cortez am 21. April 1519 an der Küste von Mexiko an Land ging, hatte er große Pläne. Er wollte das mächtige Azteken-Reich unterwerfen und plündern. Im Gegensatz zum aztekischen Großreich mit seinen Riesen-Armee standen ihm aber nur wenige hundert Mann zur Verfügung. Die waren dafür aber mit Eisen- und Schusswaffen ausgerüstet, und waren goldgierig. Cortez war klar: Das größte Risiko für seine Expedition war Meuterei und Desertion. Um die unmöglich zu machen, griff er zu einem Mittel, das Eingang in die Spieltheorie gefunden hat. Er ließ die Schiffe, auf denen er gekommen war, verbrennen. Ein Abbruch der Expedition, Rückzug oder Flucht waren nun nicht mehr möglich. “Schiffe verbrennen” steht seitdem dafür, alles auf eine Karte zu setzen.
BlingBling will sich nicht an Spekulationen darüber beteiligen, wer für die Sprengung der Pipelines verantwortlich ist (und auch nicht daran, wie der Tweet des polnischen Abgeordneten gemeint war). An dieser Stelle bleibt nur darauf hinzuweisen, dass dies eine gefährliche Eskalation darstellt. Zum einen sind die Anreize für Deutschland, noch irgendwie einen Verständigungsfrieden mit Russland zu erwirken, damit vom Tisch. Selbst wenn man wollte, könnte man nun kein Gas mehr bekommen.
Abgesehen von der eskalierenden Konflikt-Dynamik bedeutet dies, dass Europa und insbesondere Deutschland nun nicht mehr hoffen kann, nach ein vielleicht paar harten Wintermonaten irgendwie entspannt durch diesen Konflikt zu kommen. Die Veränderungen, die sich durch den Wegfall durch NS1 und NS2 ergeben, sind jetzt nachhaltig und irreversibel.
Um zu verstehen, was genau dies für Deutschland bedeuten kann, hilft ein kleiner Exkurs in die Türkei. In meiner Zeit als Korrespondent zwischen 2016 und 2019 schien folgende Story auf Repeat zu laufen:
Die türkische Lira verliert an Wert
Die Zentralbank erhöht die Zinsen nicht, weil Erdogan Druck auf die Institution ausübt
Liegt vermutlich daran, dass Erdogan ein Islamist ist und von Wirtschaft nichts versteht.
Die Inflation steigt
Repeat
Während an diesem Narrativ nichts falsch war oder ist - es war zudem am leichtesten zu vermitteln, da Erdogan als Feindbild fest in den Köpfen deutscher Leser etabliert ist - verschweigt es doch eine grundlegende Problematik. Die Türkei hat ein hohes Handelsbilanzdefizit. Das heißt, das Land importiert wesentlich mehr, als es exportiert. Vor allem importiert es Energie, in erster Linie russisches Gas. Dafür braucht die Türkei Dollar, denn Energie wird in US-Dollar gehandelt. Das ist es, was man das Petro-Dollar-System nennt. Jeder Energie-Produzent soll/muss seine Öl- und Gas-Exporte in US-Dollar verrechnen. Wer aus diesem System ausschert, zieht sich tendenziell dem Zorn Washingtons zu.
Auf der Empfänger-Seite bedeutet das: Wer weder Öl/Gas hat, noch US-Dollar drucken kann, ist abhängig entweder von den USA oder von Energie-Produzenten. Insofern hat der aktuelle Ukraine-Konflikt tatsächlich eine geopolitische Dimension: Deutschlands Abhängigkeit vom Energie-Lieferant Russland wird langfristig durch die Abhängigkeit von den USA ersetzt (die sowohl Dollar als auch Energie liefern - kostet allerdings mehr). Wer sich etwas intensiver mit den Mechanismen des Petrodollar-Systems auseinander setzen möchte, dem sei dieser hier ins Deutsche übersetzte Artikel von Alex Gladstein empfohlen.


Die Türkei hat immer wieder angespannte Beziehungen zu den USA, weshalb der US-Dollar-Fluss stockte, und die Lira an Wert verlor, und dann die Inflation im Land stieg. Die türkische Zentralbank hat dann die Möglichkeit, die Zinsen zu erhöhen, dabei aber gleichzeitig die Konjunktur abzuwürgen (und Arbeitslosigkeit zu verursachen), oder eben die Zinsen niedrig zu halten, die Wirtschaft am Laufen zu halten, und dafür eben Inflation zu riskieren. Für die USA wiederum ist die Dollar-Pipeline ein Machtinstrument. So kann Washington direkt Einfluss auf Entscheidungen Ankaras nehmen.
Auf genau dieses Dilemma steuert die EU nun zu, und mit der Sprengung der Pipelines gibt es kein Zurück mehr. Selbst wenn der Winter warm wird, und die Speicherstände ausreichen, wird Energie nun nachhaltig teurer werden. LNG mit Tankern über den Atlantik zu transportieren, kostet einfach mehr, als es über eine Pipeline zu bekommen.


Die gestiegenen Energiekosten können auch nicht einfach mit einem Gaspreis-Deckel eingefangen werden. Preis ist ein Signal: Ein hoher Preis signalisiert Knappheit, ein niedriger Überfluss. Wer das Signal ausschaltet, hat deswegen nicht mehr Güter. Oder anders gesagt: Man kann Euros drucken, aber nicht Energie.


Das Ganze nun infantilisiert “Doppel-Wumms” zu nennen, ändert nichts an der Tatsache, dass die EU sich in den kommenden Monaten in einen Strudel bewegt, der der Problematik von Schwellenländern ähnelt. Steigende Energiepreise machen die Produkte teurer. Die Inflation steigt. Zinserhöhungen sind nur im begrenzten Umfang möglich, da die Südländer diese nicht verkraften und ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone droht. Also wird das Leben durch staatliche Transferzahlungen für die unteren Schichten etwas erleichtert, die Mittelschicht wird ihre Ersparnisse aufbrauchen. All das wiederum heizt die Inflation an.
Besonders hart trifft es zur Zeit neben Deutschland auch Großbritannien:
Allerdings hat die Politik dort zumindest die Notwendigkeit begriffen, jetzt alle Energievorkommen zu mobilisieren.
In der Türkei übrigens liegt die Inflation mittlerweile bei rund 80 Prozent. Ohne die Probleme in irgendeiner Weise klein reden zu wollen: Menschen in Schwellenländern kommen damit etwas besser klar, einfach weil sie Geldentwertung gewohnt sind. Sich zu Hochzeiten Gold zu schenken zum Beispiel, ist fester Bestandteil der türkischen Kultur. Ebenso besitzen viele ein Stück Land, auf das sie sich notfalls zurückziehen können. Auch der Sinn und Vorteil von Bitcoin begreifen in der Türkei die Menschen schneller.
In Deutschland wird die nachhaltig hohe Inflation die Menschen unvorbereitet treffen, und es wird vermutlich viele, die jetzt noch glauben, wir erleben eine nachhaltige, grüne und irgendwie notwendige Transformation, sehr wütend machen. Abgesehen von ein paar Bitcoinern und Goldfans haben die wenigsten Menschen in Deutschland die Problematik von Inflation und Kaufkraftverlust begriffen.
Und dann?
Inspiration für diese Ausgabe kam unter anderem von diesem sehr hörenswerten Podcast mit Substack-Kollegen Doomberg:
Danke für den Artikel, der das grosse Bild aufzeigt. Wer sich nicht selber um den Kauf von Sachwerten als Inflationsschutz kümmer will, kann ich RealUnit in der Schweiz empfehlen. Diese investieren in physisches Gold, Silber und krisenresistente Unternehmen mit dem Ziel, die Kaufkraft langfristig zu erhalten.
Vielen Dank, sehr guter Artikel. Wie hätte man Deutschlands Energiesicherheit erhöhen können, wenn man das Geld für NS2 und die 200 Milliarden Subventionen stattdessen in den Ausbau erneuerbarer Energien gesteckt hätte?