Der chinesische (Alb-)Traum
Ein Vorabdruck meines neuen Buches über Chinas Aufstieg und seine geopolitischen Herausforderungen.
Liebe Abonnenten,
am 20. November erscheint mein neues Buch: “Der chinesische (Alb-Traum - wie China zur größten geopolitischen Herausforderung wurde”.
Folgender Text ist ein leicht veränderter Auszug daraus.
Als ich 2011 nach Shanghai zog, verbrachte ich die ersten Monate fast jeden Tag in einer Bar namens »YY«. An den Wänden hingen Porträts von Mao Zedong und andere, halbwegs ironisch gebrochene Propaganda-Kunst aus der jüngeren Geschichte Chinas: meist Arbeiter und Soldaten, die eine rote Fahne hissten. Gleichzeitig verströmte der Ort etwas vom Flair des alten Shanghai der Zwanziger- und Dreißigerjahre, als die Stadt wegen ihrer Bordelle, Opiumhöhlen und Freizügigkeit berüchtigt war.
Von den großen Glasfenstern blickte man auf die Platanen der Nanchang Lu hinab, einer kleinen, vergessenen Straße in der ehemaligen Französischen Konzession. Am schönsten war es in den schwülen Sommermonaten, als die Dächer der Bäume dicht waren und die Luft zum Schneiden dick. Das Leben draußen auf der Nanchang Lu hörte nie auf. Irgendwo schlürfte immer jemand eine Nudelsuppe oder kaufte eine Packung »Double Happiness«-Zigaretten. Und die Stadt spülte zu jeder Uhrzeit Gäste in das YY: Shanghaier Intellektuelle, deutsche Geschäftsleute, russische Künstler und Glücksritter aus der ganzen Welt. Das YY 2011 war wie China selbst: die Versicherung, an einem Ort zu sein, an dem die Welt sich schneller drehte als irgendwo anders.
Drinnen schildkrötete der Besitzer Kenny zwischen den Tischen hindurch, ließ sich von seinen Gästen in kurze Unterhaltungen verwickeln. Im Winter trug Kenny schwarze Rollkragenpullover, im Sommer weiße Hüte. Er erzählte von der Flucht seiner Familie 1949 nach Hongkong und von der Niederschlagung der Tiananmen-Proteste 1989. In der Aufbruchstimmung der Neunziger war er nach Shanghai zurückgekehrt und hatte das „Ying&Yang“ eröffnet. Kennys Geschichten gaben uns das Gefühl, Teil eines historischen Prozesses zu sein, der Öffnung Chinas. Was wir damals nicht wussten: Es war etwa in diesen Jahren, in denen der Zenit der Öffnung Chinas bereits überschritten war.
1949, vor 75 Jahren, gründete Mao Zedong nach einem blutigen Bürgerkrieg die Volksrepublik China. Anfang der 1980er Jahre öffnete Deng Xiaoping das Land und China wuchs zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt heran. 2008 fanden in Peking die Olympischen Spiele statt und zwei Jahre später die Expo in Shanghai. Um die 2010er Jahre strömte die Welt voller Enthusiasmus nach China. Eine Mittelschicht war am Entstehen, auf der nicht nur die Hoffnung westlicher Konzerne ruhte, weil sie ein unglaubliches Potenzial an neuen Konsumenten darstellte, sondern auch die von Politikern und Soziologen. Wirtschaftliche Freiheit und Wohlstand des Individuums müsse ganz zwangsläufig auch zu dessen gesellschaftlicher Befreiung führen, und für freie, selbstbewusste Subjekte ist die demokratische Teilhabe am eigenen Staat notwendig - so die Theorie.
Heute, im Jahr des 75. Geburtstag der Volksrepublik, ist der Traum der Globalisierung ausgeträumt, die Blöcke in einen harten wirtschaftlichen Konkurrenzkampf übergegangen.
Die Zahl der ausländischen Journalisten hat sich drastisch verringert. Die rigorosen Anti-Corona-Maßnahmen haben Geschäftsleute verschreckt und aus dem Land getrieben. Zensur und Propaganda haben sich verschärft.
Durch eine aus chinesischer Sicht kluge Wirtschaftspolitik ist es Peking gelungen, komplette Lieferketten zu dominieren. Am deutlichsten zeigt sich die Strategie bei der Elektromobilität. Vom Abbau der Rohstoffe in Afrika und Lateinamerika, über die Weiterverarbeitung zu Batterien im eigenen Land, bis hin zur Subventionierung der Elektrofahrzeuge - die gesamte Wertschöpfungskette ist fest in chinesischer Hand. Mit dem Verbrennerverbot 2035 der EU ist das ein toxischer Mix für die europäische Autoindustrie, der aktuell schon zehntausende Arbeitsplätze kostet. Ähnliches könnte sich bald in anderen Industrien wie dem Maschinenbau und Automatisierungstechnik wiederholen.
Die Volksrepublik gab sich 2012, als Xi Jinping die Regierungsgeschäfte übernahm, noch als friedlicher Riese. Mittlerweile hat Peking seinen wirtschaftlichen und politischen Einfluss weit über die Landesgrenzen ausgedehnt: Mit hunderten von Milliarden finanziert China entlang der neuen Seidenstraße Infrastrukturprojekte. Mit den Krediten erkauft sich die kommunistische Partei auch Einfluss. In Teilen Afrika ist Peking längst die dominierende Supermacht. Militärisch tritt die Volksrepublik im südchinesischen Meer aggressiver auf und ist zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten für die USA geworden.
Alle, die 2011 regelmäßige Gäste im YY waren, haben China längst verlassen. Immigration ist im chinesischen Traum nicht vorgesehen. Wir hatten das Glück, das Land während einer relativ offenen Periode erleben zu können.
Kenny traf ich zum letzten Mal im November 2020 in seiner nun fast leeren Shanghaier Bar. Wenige Monate zuvor war über Hongkong das »Nationale Sicherheitsgesetz« verhängt worden. Es war der Sieg Pekings über die Demokratiebewegung der Stadt. Kenny sang eine Ode auf die Kommunistische Partei und die Wiedervereinigung Chinas. Jede Parallele zur Demokratiebewegung am Tiananmen-Platz 1989 verbat er sich. Ob es die staatliche Propaganda oder sein wiedererwachtes Nationalgefühl war, die zu diesem Sinneswandel führten, weiß ich nicht.
Am 20. November erscheint: “Der chinesische (Alb-Traum - wie China zur größten geopolitischen Herausforderung wurde”.